Philosophie & Theologie

{…} Biographisch hat sich Georg Esser bereits seit seinem bewusst gewählten Ausstieg aus der Kunstszene, d.h. mit dem Aufkommen der Pop-Art Mitte der 1960er-Jahre, damit auseinandergesetzt, dass und warum er bestimmte Werke, Exponate oder Aktionen, die die moderne Kunstwelt als „Kunst“ versteht oder bezeichnet, selbst nicht als „Kunstwerke“ ansieht und akzeptiert. Dabei eben hat ihn nicht bloß die Frage umgetrieben: „Was ist Kunst?“, die sich wahrscheinlich an einem Punkt seines Schaffens jeder Künstler stellt, sondern er stellt auch die gegenteilige Frage: „Warum ist das keine Kunst?“, und wie möchte ich selbst das nennen, was heute in der Kunstszene als „Kunst“ bezeichnet wird?

Ausgehend von seiner kritischen Wahrnehmung der zeitgenössischen Kunst und des modernen Zeitgeistes beschäftigen sich dabei seine philosophischen Überlegungen bis zu seinem Tod mit den negativen Aspekten des Zeitgeistes, die er als das profane, das säkulare und das relativistische Denken analysiert; diesen setzt er positiv die Begriffe des Heiligen, des Übernatürlichen und des Absoluten entgegen. Anders gesagt, verbirgt sich hinter seiner negativen Abgrenzung, die durchaus als „Schimpfen“ auf die zeitgenössische Kunst empfunden werden kann, schließlich auch immer eine positive Bestimmung darüber, was Kunst ist und welchen Ursprung sie hat.

So kreisen die künstlerischen und philosophischen Überlegungen des Künstlers um diese Gegensatzpaare:

1. Machwerk versus Kunstwerk
2. Profanes & Triviales versus Heiliges & Erhabenes / Sublimes
3. Säkulares versus übernatürliches Sein
4. Bindungslosigkeit / Relativismus versus Bindung / absolutes Sein

5. Formlosigkeit versus Heilsordnung / Bildordnung
6. Moderne versus Antimoderne
7. Drei Bestrebungen des Menschen
8. Drei Haltungen des Künstlers

Zu (1) Machwerk versus Kunstwerk (2001, 2015)

Dem Begriff „Kunstwerk“ stellt Georg Esser den Begriff „Machwerk“ entgegen. Das führt bis heute dazu, dass – bevor er sich positiv darüber äußert, was und warum etwas „Kunst“ und ein Kunstwerk für ihn ist – er sich zunächst meist negativ davon abgrenzt, was für ihn „bloße Mache“ und ein „Machwerk“ ist. Während für ihn ein Machwerk mit Beliebigkeit, mit einer Anmaßung von Verfügungsgewalt oder einer Art Kunst per Deklaration zu tun hat, hat das Kunstwerk etwas mit einer Haltung des Empfangens zu tun. {…}

Zu (2) Profanes & Triviales vs. Heiliges & Erhabenes

Wo nun für Georg Esser Kunstwerke mit einer Ahnung des Heiligen zu tun haben, haben Machwerke oft mit ganz profanen Dingen zu tun, wie z. B. Suppendosen.

Es ist ja nicht umsonst die Pop-Art wie eine Tomatensoße.

Georg Esser, 1991

Mit dem Aufkommen der amerikanischen Populärkultur, die Mitte der 1960er-Jahre als Pop-Kultur in die europäische Kunstwelt eingebrochen ist, verbindet sich für Georg Esser auch eine Profanisierung und Trivialisierung der Kunst. Dies betrifft sowohl die Inhalte als auch die Darstellung und die Haltung zur Kunst. Als Gegensatz zum Profanen, Trivialen oder auch Banalen nennt er das Heilige und das Erhabene, Sublime oder Göttliche. Dabei ist er sich bewusst, wie fern diese Begriffe in der Moderne geworden sind: {…}

Wenn ich in meinem Malkurs sage, „Fassen Sie mal die Erhabenheit des Objektes, des Seins und der Wirklichkeit ins Auge!“, dann lachen die sich krank.

Zu (3) Säkulares vs. Übernatürliches Sein (2015)

Nach Esser kann der heute herrschende Zeitgeist in drei Worten zusammengefasst werden: Gottlosigkeit, Entheiligung, Verweltlichung. In der heutigen weltlich gewordenen säkularen Gesellschaft ist auch die Kunst säkular geworden, d. h., sie hält eine transzendente Anbindung für überflüssig oder unsinnig, sie beschäftigt sich nicht mehr mit christlichen Themen und sie lehnt in ihrer Kunsttheorie die Rede von „Transzendenz“ oder gar „übernatürlichem Sein“ ab. bzw. kennt diese theologische Sprache erst gar nicht mehr. Für den Kunstmaler Esser hingegen ist die Bindung an das übernatürliche Sein notwendig, um überhaupt Kunst zu schaffen: {…}

Zu (4) Bindungslosigkeit / Relativismus versus Bindung / Absolutes Sein

Die Frage nach der Anbindung der eigenen Kunst ist im Grunde auch eine Frage nach dem Grund des eigenen Schaffens, die sich jeder Künstler irgendwann stellen kann: Was mache ich da überhaupt und warum? Georg Esser zitiert hier seinen Lehrer von der Werkschule: Mein alter Lehrer Will, ein Schüler von Riemerschmid hat gesagt: „Wir brauchen einen festen Standpunkt.“

Und er zitiert immer wieder ein Wort von Leonardo da Vinci, das er um ein eigenes Wort ergänzt: „Macht eure Karre an einem Stern fest!“ (Leonardo) … und nicht an einer Mülltonne. (Esser) Damit spielt er auf den Unterschied an zwischen „Kunstwerken“, die sich an das übernatürliche Sein (Stern) anbinden und „Machwerken“, die sich mit der Trashkultur (Mülltonne) verbinden. {…}

Zu (5) Formlosigkeit vs. Heilsordnung / Bildordnung

In Bildwerken drückt sich der Relativismus nun in Beliebigkeit und Formlosigkeit aus. Dem stellt Georg Esser die Notwendigkeit einer „Bildordnung“ entgegen: {…} Mit dem Begriff der Bildordnung ist für Georg Esser der christliche Begriff der Heilsordnung verbunden. Diesen Begriff stellt er sogar in Gegensatz zum gängigen Begriff der Religion. Während für ihn Religion mit Selbermachen, mit geistiger Auseinandersetzung und negativ mit Selbsterlösung besetzt ist, hat Heilsordnung mit Grenzüberschreitung zur Heilswirklichkeit bzw. mit einer Transzendenzerfahrung zu tun, die wir von uns aus nicht machen können: {…} Ein Problem sieht Georg Esser darin, dass Kunst heute auf die zivilisatorische Ebene geschoben wird, aber sich von einem Verständnis von Kultur im Sinne von Bindung an eine innere Ordnung, die er im christlichen Sinne als Heilsordnung versteht, entfernt hat. Während nach seiner Wahrnehmung der Begriff der Zivilisation erhöht worden ist, wurde der Begriff der Kultur durch eine vermeintliche Gleichsetzung ruiniert. {…}

Zu (6) Moderne vs. Antimoderne

In der logischen Konsequenz seines Denkens ordnet Georg Esser nun den Begriff der Zivilisation der Moderne zu, dem er nun mit dem von ihm geschätzten Chesterton ein Verständnis von christlicher Kultur als „Antimoderne“ gegenüberstellt. An Chesterton liebt er die Bissigkeit und den Humor, mit der er geistreich die Protagonisten des modernen Zeitgeistes seiner Zeit niedermacht.193 In einem handschriftlichen Dokument von 2016 hat Georg Esser nun alle für ihn wesentlichen Begriffe unter die beiden Kategorien der Moderne und Antimoderne subsumiert, und es dürfte deutlich sein, welche Seite hier die Positivseite und welche die Negativseite für ihn ist:

Hinter all den Gegensatzpaaren, mit denen der Künstler Georg Esser seine Philosophie formuliert, verbindet sich – dies ist wichtig wahrzunehmen – auch eine tief empfundene Begründung dafür, warum er als Mensch und als Künstler bis in sein hohes Alter hinein selbst malen kann und will. {…}

Zu (7) Drei Bestrebungen des Menschen

So sieht Georg Esser zuerst und zuletzt auch den Menschen, der sich in der intellektuell „Welt des Geistes, des Für und Wider, der Theorien, des Ja und Nein“ bewegt, der sich in einer Zeit der Moderne sozusagen antimodern mit der christlichen Heilsordnung auseinandersetzt, und der sich darum bemüht, Kunstwerke zu schaffen, die auch über den Zeitgeist hinaus Gültigkeit haben können. Auf seine Frage nach dem „Menschen als Ganzes“ hat Georg Esser seine Antwort im großen Gebot bei Lukas gefunden.

Da fragt der reiche junge Mann: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? Und dann heißt es: Du sollst Gott ehren von ganzer Seele, von ganzem Herzen, mit deinem Denken.

Georg Esser zitiert hier frei nach Markus 10,17 / Lukas 18,18 / Matthäus 22,37

Aus diesem Bibelzitat leitet Georg Esser sein Bild vom Menschen ab: Wir sind rationale Wesen, wir sind Gefühlswesen, wir sind Seelenwesen. Und er verknüpft diese drei Wesensfunktionen des Menschen mit drei Bestrebungen, nämlich:

Rationales Wesen – Erkenntnisstreben

Emotionales Wesen – Gerechtigkeitsstreben

Sensuelles Wesen – Sinnstreben

Und diese drei Haltungen verknüpft er auch mit einer Definition dessen, was für ihn Kunst ist:

Wir haben also ein Streben nach Gerechtigkeit, nach Erkenntnis und nach Sinn, diese drei Dinge. Und diese Dinge spielen auch in der Kunst eine Rolle. Und das Kunstwerk, wenn es vollkommen ist, strebt zugleich nach Erkenntnis der Welt und der Wirklichkeit, es strebt nach Gerechtigkeit und auch nach Mitgefühl, Barmherzigkeit usw. Und die Seele strebt nach Maß, nach Ordnung, nach Harmonie, und darüber hinaus öffnet sich die Seele – wie Eichendorff sagt, sie spannt ihre Flügel aus – die Seele ist fähig. Grenzen zu überschreiten und über das bloß Sichtbare hinaus das Unsichtbare zu erkennen.

Georg Esser (2001)

Zu (8) Drei Haltungen des Künstlers

Wenn Künstler auch idealerweise Menschen sind, die nach Erkenntnis, Gerechtigkeit und Sinn streben (auch im Sinne von Bildwahrheit, Bildgerechtigkeit und Bildsinn), so gilt doch auch das Wort von Monet: Kunst ist Natur gesehen durch das Temperament. Georg Esser subsumiert drei Grundhaltungen. Die drei Bildauffassungen implizieren (1991):

Lyrisches Element

Episches Element

Dramatisches Element

Diese drei Haltungen haben Auswirkungen auf die Bildgestaltung:

So deutet das lyrische Element, wie auch ein Gedicht, in der Bildgestaltung auf das subjektive Empfinden in den Darstellungen, auf die Empfindungswelt hin. Nach Georg Esser gehören die Gestik, die Art des Stehens, des Schauens, der Kopfneigung zu dem, was die Bildlyrik ausmacht. Das epische Element ist der erzählerische Charakter eines Bildes. So werden alle Details erkennbar und evtl. auch ganz naiv dargestellt, jedes Blatt, jedes Gänseblümchen oder jeder Dachziegel, jedes Kleidungsstück oder jedes Symbol einer Person usw. Das war früher auch immer der Sinn der Bilder in den Kirchen, die als sogenannte Biblia pauporum galt, als Bibel des Volkes, das keine Buchstaben, sondern (nur) Bilder lesen konnte. Schließlich ist die Bilddramatik zu sehen in der Gestaltung des Himmels oder auch in einem Kontrast zwischen heller und dunkler Körperseite oder Bildseite. D. h., hier erzeugen sehr starke Hell-Dunkel-Kontraste und starke Lichtwirkungen eine dramatische Stimmung. {…}

Hinweis

Auf dieser Website finden Sie Auszüge der Künstlerbiografie „Georg Esser – Leben und Werk“ (2018) von Dr. Annette Esser und Prof. Charlotte Esser (Hg.). Das vollständige Werk mit allen Texten und Bildern inklusive Werkverzeichnis können Sie bequem per E-Mail als Hardcover-Ausgabe oder als PDF bestellen.