Jung, ich han dich jetzt die janze Zick beobachtet.
Ich jeb dir den Rat: Jung, du muss Möler weede!
Paul Kohlen zu Georg Esser, 1948
Als der Architekt Paul Kohlen dem 20-jährigen Georg Esser nach einjährigem Praktikum in seinem Architekturbüro diesen Rat gibt, hat dieser zu diesem Zeitpunkt, drei Jahre nach dem Krieg, bereits seine Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, im II. Weltkrieg und auch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft hinter sich. Er hatte eine Maurerlehre absolviert und sollte nun nach dem Willen seines Vaters, des Bayer-Betriebsrats und Gewerkschaftsfunktionärs Everhard Esser, Architekt werden. Der zeichnerisch begabte Sohn hatte diesen Wunsch durchaus geteilt, stellte dieser Weg doch eine Möglichkeit dar, sein Interesse für Kunst und Architektur mit einem praktischen Beruf in möglicherweise gut bezahlter Position zu verbinden. Und gerade der große Bedarf in der Nachkriegszeit nach schneller Schaffung von neuem Wohnraum machte die Arbeit von Architekten und Bauingenieuren wichtig. Nach einjährigem Praktikum waren dem jungen Praktikanten jedoch Zweifel gekommen, da in der – durch den Bauhausgedanken – zunehmend schnell und rein funktional geplanten Architektur der Nachkriegszeit Kunst oder Ornamentik am Bau gegenüber einer Massenarchitektur immer weniger zu bedeuten schienen. So wurde dieser fast beiläufig geäußerte Ratschlag durchschlagend für sein Leben. Kohlen hatte beobachtet, wie der Junge immer kleine Zeichnungen anfertigte, die ein künstlerisches Talent offenbarten, das weit über das hinausging, was für einfache Bauzeichnungen erforderlich war. Der 85-jährige sagt nach über sechs Jahrzehnten künstlerischer Tätigkeit: “Und das hab ́ ich ernst genommen, und da bin ich Maler geworden. Das hat mich denn doch überzeugt. Das entsprach ja auch meinen Ambitionen.“
1928-1948: Kindheit und Jugend
Georg Albert Esser wurde am 20. April 1928, noch in der Zeit der Weimarer Republik, im Bayer- Entbindungsheim in Leverkusen-Wiesdorf geboren. Seine früheste Erinnerung ist die an ein ovales Bild „mit Engelchen“ im elterlichen Schlafzimmer. Und bis zurück nach 1933 erinnert er sich an das Bild der Fahnen, die immer zu seinem Geburtstag aushingen, wegen „Führers Geburtstag“, und auch daran wie seine Mutter von der SA gezwungen wurde, eine solche Hakenkreuzfahne auszuhängen. {…} Köln war nicht nur traditionell eine katholische Stadt, sondern seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts auch eine Hochburg des Liberalismus und des Kommunismus gewesen. Die Rheinische Zeitung war das führende Blatt, für das auch Karl Marx geschrieben hatte. Auch Lenin und Bebel waren hier. {…}
Frühe Beobachtungsgabe
Noch in der Weimarer Zeit hatte der Oberbürgermeister Konrad Adenauer eine ganze Reihe moderner Bauprojekte für seine Stadt durchgesetzt. Georg Esser, der Sohn aus sozialistischem Elternhaus, nahm schon früh die Ästhetik der Industrieanlagen in Leverkusen und die neue Architektur des sozialistischen Wohnungsbaus in Buchforst wahr, wo die Familie von 1932-1940 lebte, das heißt in seiner Kindheit im Alter von 4-12 Jahren.
Kurz bevor die Nazis kamen sind wir in die Weiße Siedlung gekommen, die Riphahnsiedlung in Buchforst. Da waren die Roten noch dran. Die hat die GAG – die Gemeinnützige gebaut – und die hat den Riphahn als Architekten gehabt. Ich kann mich an den sogar noch erinnern, wie unsere Haustür umgespritzt worden ist. Die hatte falsche Farbe. Dann ist der Riphahn gekommen mit seinem Assistenten und es kam einer mit einer Lötlampe am nächsten Tag, hat die Farbe runtergemacht und dann wurde sie in einem leuchtenden Chromgelb gestrichen.
Georg Esser (2013)
Der junge „Schorsch“ hatte immer wieder den Impuls zu zeichnen. So erinnert er sich noch in hohem Alter, wie er als etwa Siebenjähriger in Buchforst vom Balkon aus die gegenüberliegende Häuserfront mit „Konsum“ (Laden) und Industriearchitektur mit Rundbögen gezeichnet hat oder wie er sich vor die Haustür gesetzt hat, um das Weinlaub an der Hauswand zu zeichnen. Auch eine Erinnerung des 9-jährigen an den Maler Dupré bekundet sein frühes Interesse an der Malerei:
Da stand der Maler Dupré, der malte drei Pappeln am Fluss. Da bin ich denn hingegangen und hab mir das immer angeguckt und zugesehen. Der kam mit grundierten, vorgearbeiteten Leinwänden, eine für morgens und eine für abends; die hatte der schon fertig, den Himmel und so weiter hat er schon gemalt und hat denn dann mit der Feder drüber gezeichnet und alla prima gemalt. An sich ’ne sehr vernünftige Technik. Die Bäume fand ich sehr schön, wie der das gemacht hat.
Georg Esser (2008)
An anderer Stelle berichtet er auch davon, dass er als Kind Portraits gezeichnet hat. Tatsächlich ist die Rötelzeichnung eines Kinderkopfes seine früheste erhaltene Zeichnung; diese hat der junge Autodidakt als Kopie einer Rubenszeichnung angefertigt. Dass er diese Zeichnung mit 84 Jahren noch einmal überarbeitet hat, zeigt, dass ihm der Erhalt eines historischen Dokuments aus seiner Künstlerbiographie weniger wichtig ist als der künstlerische Wert seiner Zeichnung. Dabei geht es ihm zwar nicht mehr um eine genaue Kopie, wohl aber um den Erhalt des Rubens’schen Duktus.
Neben schönen Kindheitserinnerungen erzählt Georg Esser auch von familiären Dramen, die ihm zu schaffen machten. So gab es einen Bruch, den er als einschneidender erlebte als den Krieg und das Bombardement seiner Heimatstadt: Seine Mutter, an der er sehr hing, verließ 1940 unangekündigt, buchstäblich „über Nacht und Nebel“, die Familie, um einen SS-Mann zu heiraten. Da der Vater sich nicht in der Lage sah, mit den Jungen alleine zu leben, gab er sie zunächst in das Kinderheim St. Josef am Klapperhof, das von Nonnen geleitet wurde. Von dort gingen die Jungen jeden Morgen zu Fuß zur Realschule in die Dagobertstraße. {…} Realschüler zu sein war schon ein Privileg, aber es war noch nicht das, was die Gymnasiasten verkörperten, die auch richtiges Hochdeutsch sprechen konnten:
In der Schull woot Kölsch jesproche, üvverall, in der Stroßebahn. Und wie ich dann 16 war, da war ich in der Flakstellung in Kurtekotten und die Leverkusener Gymnasiasten, die sprachen Hochdeutsch. Da sag ich, das kannste dir nicht gefallen lassen, da musst du Hochdeutsch lernen. Und dann habe ich mir ein Buch gekauft. So ein Heftchen, das war zufällig der Zarathustra von Nietzsche. Ich hab kein Wort verstanden von dem, wat der sagt, aber ich habe dadurch Hochdeutsch gelernt. Ich hab ́ das denn immer so vor mich hergesagt, für mich her jesprochen und auf die Tour han isch dann Hochdeutsch jeliert, un op einmol konnte isch datt. Und dann habe ich mit den Gymnasiasten aus Leverkusen, die so vornehm waren, da habe ich dann auch ganz vornehm geguckt.
Georg Esser
Maurerlehre und Praktikum im Architekturbüro
Bis Ende 1945 konnte Georg Esser dann seine bereits während des Krieges begonnene Maurerlehre weiter fortsetzen. Die Gesellenprüfung legte er 1947 in Köln-Riehl ab. Die weitere Berufsplanung sah es dann für ihn vor, Architekt (bzw. Ingenieur) zu werden. So machte Georg Esser sein Praktikum im Architekturbüro von Paul Kohlen in Köln-Mülheim (1947-48). Diesen von seinem Vater vorgezeichneten Berufsweg ging er dann so nicht weiter.
Im Alter von 20 Jahren entschloss sich Georg Esser zu einem Kunststudium und bewarb sich mit seiner Mappe an der neu eröffneten Kölner Werkschule. Diese hatte als Gründung des Deutschen Werkbundes und auch als ehemalige Meisterschule des Deutschen Handwerks einen sehr guten Ruf und war auch nach dem Krieg wieder von Konrad Adenauer, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Köln, gefördert worden. Die Schule war sehr an der Aufnahme des jungen Maurergesellen interessiert, auch weil dieser beim Aufbauen der Räume des zerbombten Gebäudes helfen könnte. So kam es, dass er 1948 noch vor seiner Aufnahme als Vollstudent dort seine Arbeit als Bauleiter begann. {…}
Erste Klasse „Glasmalerei“ bei Prof. Wilhelm Teuwen
Zunächst versuchte es Georg Esser, seiner Vorbildung am Bau entsprechend, mit der Klasse Glasmalerei bei Prof. Teuwen. Davon zeugt eins der wenigen Fotos aus der Werkschulzeit von 1948. Obwohl der junge Werkstudent nicht in dieser Klasse blieb, lernte er doch etwas über die Herstellung von Glasfenstern und Glasmalerei. So beteiligte er sich an einer Auftragsarbeit für neue Fenster im Kölner Dom, die im Zuge des 700-jährigen Dombaujubiläums 1948 im Obergaden angebracht werden sollten.
Aufnahme in die Klasse „Freie Graphik“ bei Prof. Alfred Will
Am 15. März 1949 wurde Georg Esser als Vollstudent an der Kölner Werkschule eingeschrieben und belegte in dieser Zeit durchgehend die Klasse Freie Graphik bei Prof. Alfred Will. Alfred Will (*1906) war Schüler von Richard Riemerschmid (1868-1957), einem bekannten Jugendstilarchitekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes (1907) und der internationalen Bewegung Art & Craft. In der Erinnerung von Georg Esser waren beide, der noch lebende Richard Riemerschmid und Alfred Will, für seine Ausbildung als Künstler wichtig. In dieser Zeit seiner Ausbildung hat sich Georg Esser mit den Techniken der Lithographie sowie der Aktmalerei beschäftigt.
Georg Essers Vater, der als Gewerkschaftsführer nach Hannover gezogen war, konnte seinem Sohn bereits im Wintersemester 1949/50 ein Praktikum in Hannover vermitteln, zunächst in einer Setzerei und dann in der Werbeabteilung der Hanomag. Georg Esser konnte hier viele wertvolle Erfahrungen, insbesondere im Druck und in der Werbebranche sammeln und genoss die Zeit in Hannover. Gegen den Wunsch seines Vaters zog er dann aber wieder zurück nach Köln um an der Kölner Werkschule weiter zu studieren. Hier galt es nach dem politischen, ideellen und kulturellen Zusammenbruch des Dritten Reiches nun endlich wieder an die Kunst der Moderne, die in der NS-Zeit teilweise als entartet bekämpft worden war, anzuknüpfen. Damit rückte auch die politische Ausrichtung der Lehrer in den Fokus. Denn wie alle Studenten begegnete Georg Esser der Kunst der Moderne an der Kölner Werkschule zuerst durch die Lehrer, die selbst aus deren verschiedenen Richtungen kamen und die auch teilweise deswegen in der Zeit des Dritten Reiches nicht hatten lehren können. So Prof. August Hoff (1893-1971), der als Kunsthistoriker und Katholik 1933 von den Nationalsozialisten entlassen worden und nun von Konrad Adenauer neu berufen worden war, um als erster Direktor nach dem Krieg von 1946 bis 1957 die Werkschule wieder aufzubauen. {…}
Als armer Student und brotloser Künstler im Köln der Nachkriegsjahre
Nach seiner Zeit in Hannover lebte Georg Esser zunächst unter eher prekären Umständen. Um Lebensunterhalt und Studiengebühren zu finanzieren, arbeitete er in den Semesterferien und zweitweise auch im Semester (SS 1951 und SS 1952) am Bau.76 Ein Domizil fand er in einer Gartenlaube in Flittard.
Ich habe damals ein Zimmer gesucht. Viel Geld hatte ich ja nicht. Und da hatte ich dann so ein Zimmerchen gefunden, aber das war so unangenehm, da konnte ich nicht arbeiten, da war ich so eingeengt. Die Vermieterin, die war ziemlich kleinbürgerlich, spießig. Da kam ein Freund und hat gesagt: „Da ist doch eine Gartenlaube, die kostet 10 Mark im Monat. Wär ́ das nix für dich?“ Das war dann so ein Büdchen, 2 1⁄2 mal 2 1⁄2 m mit einem Bett drin, einem Tisch am Fenster, einer Regentonne vor der Tür und ein kleines Tischen mit einem Kochherd. Das habe ich dann gemietet und hab dann ein paar Monate drin gewohnt. Obgleich das war nicht schlimm, weil ich war ja den ganzen Tag, von morgens 8 bis abends 8 in der Werkschule und habe da gearbeitet. Ich bin da praktisch nur hin, um zu schlafen. Und weil ich ja kein Geld hatte, bin ich dann zu Fuß von Flittard zum Ubierring gelaufen in die Werkschule.
Georg Esser
Aber trotz seiner prekären Situation gab Georg Esser die Kunst nicht auf. Darin bestärkte ihn auch der Freundeskreis, in dem er sich während seiner Studienzeit (1948-1952) und auch in der Zeit danach als freier Maler Graphiker, bewegte. Das waren neben dem Kreis seiner Studienfreunde an der Werkschule, wie Karl Marx, Egon Blasweiler und Hans Koller, ein weiterer Kreis von Künstlerfreunden und Bekannten, die er aus seinem Wohnort Stammheim und Flittard kannte, Eine Zeichnung von Egon Blasweiler zeigt zum Beispiel vier Freunde, die an der Haltestelle stehen:
Egon Blasweiler, An der Haltestelle,
um 1952Mutter mit Kind, 1952. Tuschezeichnung
Ja, das war ja die Zeit 48/49. Die Währungsreform kam ja erst 1949. Da ging es uns ganz schön dreckig. Da gab es vom Staat eine Schulspeisung. Die Wirtschaft Schlendthaus in Mülheim hat dann jeden Tag so eine Tonne mit Suppe angeliefert. Da haben wir wenigstens so ein bisschen Suppe gehabt, eine warme Mahlzeit. […] Dann die Währungsreform 1949, und da war alles Elend vorbei. Auf einmal war alles da. […] Wie mit Zauberhand! Das heißt: Die Lebensmittelhändler, die Firmen und so, die haben also Unmengen Lebensmittel zurückgehalten und haben auf bessere Zeiten gewartet, weil sie das gegen das wertlose Papiergeld nicht hergeben wollten.
Georg Esser
Portrait Heiner Sandrock, 1950.
Kreide, 64×103Portrait Heiner Sandrock, ca. 1950.
Öl auf Leinwand
Prägend für die Entwicklung der eigenen Malerei von Georg Esser, der sich an der Moderne orientieren wollte, waren neben seinen Professoren seine Studienfreunde von der Werkschule, insbesondere sein Mitstudent und Freund Karl Marx. Die wichtigsten Stilrichtungen der Moderne aus der Zeit vor dem Krieg, mit denen sich die jungen Künstler in Köln auseinandersetzten und an die sie auch anknüpfen wollten, waren Impressionismus, Jugendstil bzw. Art Nouveau, Fauvismus, Expressionismus und Bauhaus. {…}
1955 – 1963: Junge Ehe und Geburt von fünf Kindern
Der 27-jährige Graphiker Georg Esser und die 29-jährige Realschullehrerin Marianne Förster haben am 10. August 1955 in der Nikolauskirche in Bad Kreuznach geheiratet. Marianne Esser, die während des Krieges Schauspielerin hatte werden wollen, hatte in Köln Sport an der neugegründeten Sporthochschule und auch Deutsch an der Universität zu Köln und schließlich noch Kunst für das Realschullehramt an der Pädagogischen Akademie studiert. Nun arbeitete sie als junge Lehrerin, die und wollte keineswegs nur Hausfrau und Mutter sein wollte. Marianne und Georg führten ein Leben wider der Konvention. Sie arbeitete und bekam fünf Kinder – er wurde Hausmann und arbeitete zu Hause als Maler, wobei er “teure Ölfarbe auf die Leinwand spachtelte“. 1956 zog das junge Paar in eine 3-Zimmer Wohnung in der Kölner Innenstadt, in der sie bis 1963, bis kurz vor der Geburt des fünften Kindes lebten. Die Zeit in der Engelbertstraße war künstlerisch eine intensive Zeit, in der viele Selbstbildnisse, Portraits, aber auch großformatige Aktbilder und Stillleben entstanden sind. Deren Abbilder sind teilweise zumindest auf Schwarz-Weiß-Fotos und Dias erhalten. {…}
Festhalten an gegenständlicher und figürlicher Malerei
{…} In der damaligen Kölner Kunstszene, führte das immer stärkere Aufkommen der Abstrakten dazu, dass sich figürliche Maler, die an den gegenständlichen Traditionen der Moderne festhalten wollten, zunehmend ins Abseits gestellt sahen. Georg Esser beurteilt dies im Rückblick so.
Dann kamen die Abstrakten, Götz und Sonderborg mit ihrem Dekorationsscheiß … und haben die anderen verdrängt … 60-er Jahre. … Ich gehörte zu den Gegenständlichen. Die machen denn Farben, der Sonderborg und Götz oder Nay, der macht so Kreise oder die machen einfach so rhythmische Bewegungen. Aber im Grunde ist das Dekoration
Georg Esser
Selbstbildnisse und Portraits
Die vielen Selbstbildnisse, die Georg Esser malte, radierte und zeichnete, entstanden teilweise mithilfe eines Spiegels, der an der Staffelei hing, teils mit Fotos, mit denen er in dieser Zeit zu arbeiten begann. Eines der wichtigsten Selbstportraits ist ein Ölbild, das Georg Esser mit einem stilistischen Pendant, dem Portrait von Gerhard Starck, in der Winterausstellung in Düsseldorf 1960/61 ausgestellt hat.
Selbstbildnis IV „Blau“, ca.1960. Öl auf Hartfaser, 49×64 Portrait Gerhard Starck, ca. 1960. Öl auf Hartfaser, 47×68
Das Selbstportrait ist klar strukturiert mit Betonung der Vertikalen durch Linien und Farbverteilung im Hintergrund, wogegen sich der schräg angesetzte, nach links blickende Kopf absetzt. Die Bild-Masse-Verteilung und die Hell-Dunkel-Verteilung spielen eine wichtige Rolle in der Komposition; diese beiden Bildelemente sind und waren Esser wichtig. Als Farben sind Blau und Schwarz gewählt, dazu ein dunkles Weiß und ganz wenig, sorgsam platziertes Rot. Spannung und Unruhe gerät durch die schräge Neigung des längsgezogenen Kopfes und dessen Positionierung abseits der Mittelachse ins Bild. Die Nasenform in Übrigen ist immer auffällig in den Selbstporträts und hier fast expressionistisch überbetont.
Viele weitere Selbstbildnisse und Portraits finden Sie hier in der Bildergalerie.
1963 – 1980: Neues Heim und neue Aufgaben
Mit 35 Jahren zog Georg Esser aus der Innenstadt an den Stadtrand von Köln, in ein neues Haus in Köln-Heimersdorf. Dort konnte er sich im oberen Stock ein Atelier zum Malen und im Keller eine Werkstatt mit Druckpresse für seine graphischen Arbeiten einrichten. Und er legte los – mit Graphiken, Glasfenstern und viel Ölmalerei. Bis 1965 war Georg Esser als freischaffender Maler und Graphiker Mitglied im Kölnischen Kunstverein und im Verband Bildender Künstler im Land Nordrhein-Westfalen und beteiligte sich an deren Ausstellungen.
Marienfenster (1964)
Nach seiner Ausbildung am Werkslehrer Seminar 1966/67 trat Georg Esser seine Tätigkeit als Kunstlehrer am Gymnasium Köln-Weiler an, die er nach 13 Jahren im Jahr 1980 wieder beendete. In dieser “Schulzeit” begann er sich intensiv mit Naturformen zu beschäftigen, wie eine ganze Reihe von Graphiken und Zeichnungen belegt. Es entstanden viele Stillleben, teils ohne Vorlage, teils von Fotos oder von Objekten, die im Atelier drapiert wurden.
1980-1999: vom Schuldienst bis zum “Kreuzweg”
Nach dem frühzeitigen Austritt aus dem Schuldienst folgte eine neue Phase produktiven Schaffens, in der viele Stillleben, Portraits, mythologische Bilder und Architekturbilder entstanden. Georg Esser griff verstärkt Impulse seiner Kinder auf, z. B. beschäftigte er sich genauer mit Naturform auch im Dialog mit seiner Tochter Charlotte, die Biologie studierte.
Einen Einschnitt in der künstlerischen Arbeit nach der Schule stellt die Aufnahme der Arbeit an einem Kreuzweg seit 1984 dar. Diese langwierige und aufwändige Rekonstruktionsarbeit rückte alle anderen Arbeiten des Künstlers nicht nur über Jahre, sondern über ein Jahrzehnt in den Hintergrund und war bis 2018 noch nicht endgültig abgeschlossen. Ertragreich für den Kunstmaler Georg Esser war, dass er sich dadurch – jenseits der heute gängigen Alla-prima-Malerei der Moderne – nun eingehend mit den Malweisen der alten Meister befasste, insbesondere mit der von Tizian im 16. Jahrhundert entwickelten Ton-in-Ton-Malerei, die nur noch wenige Künstler beherrschen.
2000 – 2014: eine neue Schaffensphase
Nachdem er den Kreuzweg weitgehend abgeschlossen hatte, widmete sich Esser dem Reisen und der Weiterbildung. Neben alten Motiven wie den Mühlen in Holland malte er nun Bilder, die von den für ihn neuen Landschaften wie Rügen und Sizilien inspiriert waren. Hier setzte er sowohl seine, durch die Arbeit am Kreuzweg vertieften, Kenntnisse in Ton-in-Ton-Malerei ein, probierte aber auch neue Malweisen aus. In dieser Phase findet Georg Esser auch zu einer fortwährenden und tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Malerei, d. h. mit Maltechniken, Bildaufbau und den Bildelementen Farbe, Form, Licht und Struktur. Aufbauend auf dem zugrundeliegenden Handwerk erfolgt dabei die Umsetzung der eigenen Bildvorstellungen. Trotz der wiederkehrenden Bildmotive steht hier das Motiv nicht wirklich im Vordergrund. In all dem sucht der Maler nach bildnerischer Gültigkeit und Authentizität seiner Arbeit. Letzteres betrachtet er als unentbehrliches Qualitätskriterium. {…}
Bei mir spielen die Hell-Dunkel-Kontraste eine Rolle, also die Massenverteilung, die Bildkontraste im Hell-Dunkelbereich – Mittelton, dunkel, hell. Die Farbe spielt bei mir eine untergeordnete Rolle. Formales, Strukturelles und Kontraste sind bei mir wichtiger, zum Beispiel Fläche-Linie-Kontrast, Fläche-Raum-Kontrast. Das ist für mich wichtig. Aber niemals theoretisch und ausschließlich, sondern ich halte mir das immer offen.
Georg Esser
2014 – 2020: ein unvollendeter Abschluss
Mit dem Tod der Ehefrau Marianne Esser im eigenen Haus und umgeben von allen fünf Kindern am 8. November 2014 beginnt die letzte Phase im Leben des Künstlers Georg Esser, der zu diesem Zeitpunkt selbst bereits 86 Jahre alt ist. Zunächst ist dies eine Phase, in der er überhaupt nichts mehr schaffen kann und mag. Dann sind die Kinder erleichtert, als er wieder mit dem Malen beginnt. Im Atelier entstehen neue Arbeiten. Mindestens 20 Bilder sind es, an denen er gleichzeitig arbeitet.
Altersbedingt kann der Maler aufgrund des Zitterns der Hand und der zunehmenden Schwächung eines Auges seinen feinen Stil nicht weiter fortsetzen, will es auch nicht. Der Stil und vor allem die Farbgebung ändert sich, er geht „mehr über die Farbe ins Bild“, wie er es ausdrückt, arbeitet großflächig mit Ölstiften, Ölkreide und Mal-Lappen und nutzt auch vermehrt Struktur als Bildelement. In dieser Schaffensphase erkennt man Georg Essers starken Willen, seine Arbeiten und damit in gewisser Weise sein gesamtes Lebenswerk bewusst und willentlich und mit seinem gesamten Urteil als Künstler gut abzuschließen.
Auf die Frage seiner Tochter, ob sie sein Lebenswerk als “Wider den Zeitgeist‘ bezeichnen darf, antwortet er: „Ja, aber ganz sicher. Ja deswegen hänge ich doch hier so alleine rum. Wo soll ich mich denn festmachen!? Bei wem?“ (Georg Esser)
Am 29. Juli 2020 verstirbt Georg Esser nach plötzlicher Krankheit im Kreise der Familie. Bis zu seinem Herzinfarkt hat er gemalt und selbstbestimmt gelebt. Sein letztes geplantes Werk konnte er nicht mehr vollenden – als er im Krankenbett verstirbt, steht auf seiner Staffelei noch das unvollendete Bild „Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt“ sowie auch ein spätes, unvollendetes Selbstporträt.
Hinweis
Auf dieser Website finden Sie Auszüge der Künstlerbiografie „Georg Esser – Leben und Werk“ (2018) von Dr. Annette Esser und Prof. Charlotte Esser (Hg.). Das vollständige Werk mit allen Texten und Bildern inklusive Werkverzeichnis können Sie bequem per E-Mail als Hardcover-Ausgabe oder als PDF bestellen.